Wie vielleicht die eine Leserin oder der andere Leser weiß, wohne ich in Berlin-Prenzlauer Berg. Ah, sagen jetzt die, die es noch nicht wussten: Gutbürgerliches Schwabistan, so einer also. Ja, nee, antworte ich da, zum einen wohne ich hier schon länger als das wohlverdienende Bürgertum, zum anderen leben hier kaum Schwaben, denen gehört bloß alles. Was ein feiner, aber entscheidender materialistischer Unterschied ist. Aber darum soll es hier gar nicht gehen. Der Prenzlauer Berg jedenfalls bedient allerlei Klischees, und die meisten davon sind wahr: Es gibt eine unerträglich hohe Anzahl von Kindern, alleine im im Umkreis von 500 Metern rund um meine Wohnung befinden sich drei sehr große Spielplätze. In den Eisläden, Entschuldigung, in den Showrooms der Bio-Eismanufakturen wird die Sorte Safran-Ingwer angeboten. Die Eltern helikoptern derweil stets wachsam über ihren Gören, bis der kleine Jeremy zum Golftraining abgeholt wird und wählen grün, in meinem Wahllokal kommt die Partei der Besserverdienenden regelmäßig auf 40 – 55%. Alles wahr also, fast jedenfalls, es gibt noch Widerstandsnester, aber auch das ist hier nicht das Thema.
Was die bundesdeutsche Klischeevorstellung über den Prenzlauer Berg – jedenfalls meiner Wahrnehmung nach – selten erwähnt, ist ein im multikulturellen Berlin recht auffälliger Umstand: Prenzlauer Berg ist weiß und deutsch. Klar, Cem, der mich immer „Chefnachbar“ ruft, wenn ich bei ihm meinen Döner kaufe, ist Türke. Die vielen Schawarma-Dealer entlang der Danziger (der Prenzlauer Berger isst lieber Schawarma, der liegt nicht so schwer im Magen und ist auch sonst feiner) sind Libanesen, Ägypter und anderer arabischer Provenienz. Aber weder Cem noch seine arabischen Kollegen wohnen hier. Die Ausländer, die hier wohnen sind US-Amerikaner, die für die paar Jahre, in denen sie hier sind, bevor sie wieder zurück gehen, kein Deutsch lernen.
Ca. 15 Fahrradminuten weiter westlich liegt der Wedding. Früher der rote Wedding genannt, da von Arbeitern mit kommunistischen Hintergrund geprägt, heute ein Stadtteil, in dem Menschen wie Cem, also Menschen mit Migrationshintergrund, leben, wenn ihnen Kreuzberg zu hip und zu laut ist. Der überwiegende Teil des Weddings, über den ich reden kann, da ich ihn inzwischen ganz gut kenne, ist türkisch, in allen Generationen. Anderswo sind die Menschen afrikanischer Herkunft, überall gibt es viele Polen, der Wedding ist bunt. Und auch hier finden sie sich, die Klischees: Die Dichte dicker und teurer Autos ist deutlich größer als im viel wohlhabenderen Prenzlauer Berg, das Leuchten der kalten Neonröhren in den vielen Männercafes am späten Abend wird nur noch von den grellen LED-Werbetafeln an den Wettbüros übertroffen. Die Amtssprache auf der Straße ist perfektes bilinguales Kanak. Die Hälfte aller türkischen Frauen in diesem eher familiär geprägten Kiez trägt Kopftuch, im Fitness-Studio schwitzen Muskelberge im Bushido-Look, im Laden des Schusters und Schlüsselmachers (der selbstverständlich, ohne Fragen zu stellen, jeden Schlüssel nachmacht) hing lange ein Erdoğan-Portrait.
Es ist dieser Teil Deutschlands, der auch in vielen anderen Großstädten zu finden ist, der Deutschen (jenen ohne unmittelbar ansehbarem Migrationshintergrund) Angst macht. Den mit Stammtischparolen um sich Werfenden und in der braunen Kloake Watenden, ebenso wie den wohlverdienenden Wohlmeinenden in direkter östlicher Nachbarschaft. Die Erstgenannten sehen eine herbeifabulierte äußerliche Einigkeit in Gefahr. Schon der Anblick dunklerer Hautfarbe, der Anblick eines in vermeintlich undeutsche Form gebrachten Schnäuzers, ein Name wie Mohammed, Ali oder Mesut bringt ihr Blut in Wallung. Die letztgenannten wähnen sich deutlich differenzierter, sind es auch, das Fremde bleibt ihnen aber ebenso fremd. Natürlich ist es ein Skandal, dass Mohammed mit dem deutlich besseren Zeugnis als Frank weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat als Frank, aber dass sich Mohammed dann von seinem dürftigen Gehalt so ein dickes Auto kauft, muss das denn sein? Wie kann der sich das überhaupt leisten, legal doch bestimmt nicht? Und überhaupt, dicke Autos sind nicht sonderlich umweltbewusst, weiß Mohammed das denn nicht? Ali lebt jetzt in dritter Generation in Deutschland und sein Deutsch, nun ja, ist verbesserungswürdig. Was haben sich seine Eltern nur dabei gedacht, war denen in Alis Kindheit denn nicht klar, dass es um Alis Zukunft geht? Wenn Erdoğan eine Wahl gewinnt, hängen Menschen türkische Fahnen aus dem Fenster ihrer dicken Autos, das sind doch keine deutschen Werte? Was denken die sich denn? Wir Deutschen sind jedenfalls überzeugte und lupenreine Demokraten, und wenn die hier leben wollen, dann müssen sie das auch sein.
Seit über 50 Jahren ist Deutschland ein Einwanderungsland für Menschen aus Südeuropa. Ein Einwanderungsland war es vorher auch schon, aber da kamen die Menschen aus anderen Gegenden, und sahen wenigstens sagenwirmal mitteleuropäisch aus, da fiel es leichter über mangelnde Assimilation hinweg zu sehen. Denn um Integration ging es nie. Integration würde voraussetzen, dass eine Erkenntnis darüber vorherrscht, dass die aufnehmende Gesellschaft keineswegs homogen ist und die hinzukommenden die vorhandende Heterogenität erweitern.
Findet auf Twitter eine der allseits beliebten Brauchtumsabgleichungsdiskussionen statt, stellt sich schnell raus, dass Friesinnen und Bayern, Saarländer und Brandenburgerinnen nicht viel gemein haben. Außer ihrem Pass und der Sprache und selbst beim letzteren kommen angesichts unserer Freunde aus den Alpenprovinzen Zweifel auf. Markus Söder und Alice Weidel sind Erdoğan politisch deutlich näher als mir. Ich erinnere mich an ein Klebeheftchen zur WM 1982, bei der die deutschen Nationalspieler auch ihre Lieblingsinterpreten angegeben hatten, mein 13jähriges Ich geriet in eine echte Krise, da ich kurzzeitig nicht wusste, ob ich auch zukünftig eine Mannschaft anfeuern könnte, die anscheinend ausschließlich aus Menschen bestand, die Nicole toll fanden. Nicole! Bei allem, was recht ist, so schlechter Musikgeschmack kann doch nicht deutsch sein und wenn doch, was bin ich dann?
Das deutsche „Wir“ ist, wie immer, ein konstruiertes, weil es die Unterschiede ignoriert. Das kann vereinen, das ist in Ordnung, wenn es denn ein deutsches „Wir“ überhaupt braucht. Das Problem: Ohne „Sie“ gibt es kein „Wir“. Und in dem Moment, in dem das „Sie“ eine Rolle spielt, ist die Ignoranz der inneren Unterschiede katastrophal. Warum gehören Menschen, die 40 Jahre in unterschiedlichen politischen und sozialen Systemen gelebt haben, zusammen, Menschen, die in den 40 Jahren Tür an Tür gelebt haben, aber nicht? Warum gehören Menschen, die schrecklich reaktionäre Schlagermusik lieben, dazu, Menschen, die beispielsweise Bengi Bağlama Üçlüsü hören, aber nicht? Selbstverständlich ist, wenn Sie mich fragen, eine Unterstützung Erdoğans eine politische Katastrophe, aber, entschuldigen Sie mal, es gibt in diesem Land Menschen, die regelmäßig die FDP wählen, eine Partei, die mehr als jede andere offen dazu steht, dass es ihr komplett egal ist, wie es 95% der Menschen in diesem Land geht. Die dürfen aber Deutsche sein, oder wie oder was? Ich kann Teile meiner Familie bis ins Jahr 1520 zurückverfolgen, ich bin as deutsch as it gets, aber Menschen, die Grünkohl mögen, sind mir höchst suspekt und ich glaube nicht, dass ich viel mit denen gemein habe. Einige meiner besten Freunde sind Grünkohlesser, aber wenn es hart auf hart kommt und ich mich zwischen denen und jenen, die meinen Döner herstellen, entscheiden muss: Tschüssi, Freunde, war schön mit Euch.
Nahezu alles, was im Folge der Özil und Gündoğan-Fotos diskutiert wurde, sitzt dem falschen Verständnis von Integration auf. Selbstverständlich sollen Türken hier leben dürfen, sie dürfen auch gerne ihre Speisen mitbringen, und ja, da sind wir ja nicht so, ihre Kinder auch Mohammed, Ilkay oder Mesut nennen. Schlauer wäre es halt, sie würden sie Moritz, Michael oder Richard nennen, dann hätten sie bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, aber selbst schuld. Und ja, okay, wenn sie lang genug und verhaltensunauffällig hier leben, dürfen sie sich auch „deutsch“ nennen. Bei den Werten ist dann aber Schluss mit lustig. Ein Foto mit Erdoğan zu machen, geht auf gar keinen Fall. Nicht vereinbar mit unseren Werten. Hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen und ihre Helfer vor Gericht zerren, DAS sind deutsche Werte. Dem Mann aus Istanbul, mit dem ein richtiger Deutscher kein Foto machen darf, Waffen zu verkaufen, damit er Menschen in Not bei sich behält und ihnen die Weiterreise verweigert: Deutsche Werte.
Integration ist keine Rosinenpickerei. Über Werte zu diskutieren und zu streiten ist richtig und notwendig. Mit Erdoğan-Unterstützern ebenso wie mit Seehofer-Fanboys. Falls es nach den vergangenen Wochen Letztere noch gibt, abgesehen von DFB-Präsident Reinhard Grindel. Dass der Mann, der Abgeordnetenbestechung ganz okay fand, als er selbst noch Abgeordneter war, Mesut die Schuld gibt, dass Thomas, Timo und Manuel eine schlechte WM gespielt haben, zeigt jedenfalls deutlich, dass er bis heute nicht verstanden hat, wie Integration funktioniert und dass die aufnehmende Gesellschaft nur in seinen feuchten Träumen homogen ist. Und es zeigt, dass er zwar ein würdiger Nachfolger von Hermann Neuberger, aber kein geeigneter DFB-Präsident ist.
Das ist das Beste, was ist seit Beginn dieser ganzen unerträglichen Diskussion, die eine Vermischung unterschiedlichster, völlig voneinander getrennt zu betrachender Dinge darstellt, gelesen habe.
Das Foto mit Erdogan muss man sicher nicht gut finden, tu ich auch nicht. War sicherlich auch nicht seine beste Tat, ist aber Mesut Özils eigene ganz persönliche Entscheidung. Die politische Komponente, die damit verbunden ist, geht den DFB und seinen Präsidenten nichts an. Ein Verband, der stets jegliches politisches Statement, sei es zu z. B. Russland oder zu Qatar vermeidet und sich allein auf sportliche Dinge reduziert, hat keinerlei Recht, einen Spieler aufgrund seiner politischen Einstellung öffentlichkeitswirksam zu kritisieren. Subjektive Moralvorstellungen und ethische Aspekte wirken vor diesem Hintergrund scheinheilig und haben hier nichts zu suchen.
Stattdessen hätte es den DFB und #DieMannschaft auf den Plan rufen müssen, dass das Foto von vielen “Fußballfans” als Anlass genommen wird, Mesut Özil auf wirklich übelste Art und Weise anzugehen. Ich hätte erwartet, dass man sich geschlossen hinter Özil stellt und diese ganze unsägliche Rassimus-Debatte klar und eindeutig verurteilt. Stattdessen verschärfen Grindel und Bierhoff diese Diskussion noch. Im besten Fall ist ihr Verhalten nur unprofessionell, im schlimmsten aber absolut verwerflich. Und egal, welcher dieser Fälle zutrifft, damit haben sie an der Spitze des DFB nichts zu suchen.
Ich gebe zu, dass die Lösung dieser komplizierten Situation nicht einfach ist, aber wie man so viele Fehler auf eine Haufen begehen kann, ist mir dennoch unbegreiflich.
Dass im Zusammenhang mit dem Erdogan-Foto die Hymnen-Thematik u. a. auch von so genannten “Fußball-Exerten” wieder herangezogen wurde, um Rückschlüsse auf die spielerische Qualität und die Einsatzbereitschaft Özils zu ziehen, ist völlig hanebüchen und hat das rassistische Bashing befeuert. Hierzu eine persönliche Anmerkung: In meiner Generation waren Hymne, Bundesadler und deutsche Fahnen hochgradig verpönt und nichts, womit man sich in der Öffentlichkeit geschmückt hätte. Es ist sicher begrüßenswert, dass wir heute ein unbefangeneres Verhältnis zu unser Nationalität haben, aber leider sind auch die rechten Tendenzen in unserem Land mittlerweile wieder unübersehbar.
Und abschließend noch eine kleine Ergänzung zur öffentlichen Özil-Diskussion: Von der Körperhaltung eines Menschen auf seine Leistungsfähigkeit und seinen Charakter zu schließen, ist das Allerletzte!
Beste Grüße, Anja