Und zwischen den Fahnen ein grünes Fußballfeld. Fußball in Belfast.

Das Erste, was den müden Augen unserer Reisegruppe an diesem trüben und kalten Ostermontagmorgen ins Auge fällt, als wir die Fähre in Belfast, unserem Reiseziel, verlassen, sind Fahnen. Viele. Alle zeigen den Union Jack. Seitdem der Stadtrat Belfasts im Dezember beschloss, die britische Fahne nicht mehr durchgängig auf der City Hall wehen zu lassen, ist er wieder sichtbarer geworden, der Konflikt zwischen katholisch-irischer und protestantisch-britischer Seite.
Die Unruhen im Januar – als befürchtet werden musste, dass der seit 1998 anhaltendeee Waffenstillstand brüchiger sein könnte als gehofft – sind glücklicherweise wieder abgeebbt, doch die Fahnen hängen noch, an den Häusern und Laternenmasten oder als Wimpelketten quer über die Straße. Der Union Jack überall dort, wo die Loyalisten wohnen; die irische Fahne in den republikanischen Wohngegenden. Und so gesellen sich viele Fahnen zu den anderen Anzeichen einer in sich zerrissenen Stadt, zu den vielen häufig gewaltverherrlichenden Murals und den die einzelnen Stadtviertel durchschneidenden Peace lines, bis zu acht Meter hohe Wände aus Stein, Stahl und Zaun.

Rekordmeister Linfield FC wird geehrt. Unten rechts: Werbung für eine eher radikale Unterstützergruppe der schottischen Rangers. Klick: größere Ansicht.

Unsere erste Begegnung mit Fußball findet auf der Shankill Road statt, der bekanntesten protestantischen Straße im Westen Belfast. Einige Häuserblocks entfernt von einem großen Wandbild zu Ehren des nordirischen Rekordmeisters Linfield FC, trinken wir ein Bier in einem Pub, der sich Northern Ireland Supporters Club nennt. Nicht nur die Adresse, auch der Name verrät schon, welche Gesinnung hier vertreten wird – republikanische Nordiren tränken ihr Bier kaum in einer Lokalität, die die nordirische Nationalmannschaft unterstützt. Zwischen verzierten Spiegeln, die dem einzigen nordirischen Sieg über England in einem Pflichtspiel (1:0 in der WM-Qualifikation 2005) oder dem mit Abstand besten Fußballers Nordirlands, George Best, gedenken, erfahren wir, dass es ein paar Häuser weiter Tickets für die Pokalspiele am kommenden Wochenende geben soll.

Das nämlich ist die Crux an dieser Reise: wir reisen zu einem Zeitpunkt, an dem die Liga, so glauben wir, Pause macht, zwischen regulären Meisterschaftsspielen und den Playoffs, in denen die ersten Sechs, ihre Punkte aus den bisherigen Spielen mitnehmend, den Meister ermitteln. Aber wir werden Fußball sehen können: die beiden Pokalhalbfinale finden am kommenden Samstag statt, erst die Partie Portadown FC – Glentoran FC im Windsor Park, dem Nationalstadion Nordirlands und sportliche Heimat Linfields, anschließend im Oval – Heimat Glentorans – das Nord-Belfaster Derby Crusaders FC – Cliftonville FC.
Doch Karten bekommen wir an diesem Tag nicht, und so umrunden wir mit weitem Umweg die Peace Line, um auf der anderen Seiten auf das katholisch-republikanische Pendant der Shankill Road, die Falls Road, zu kommen.

Hier finden wir uns schnell in einem Pub namens The Red Devil wieder, in dem laut Hinweisschild Kinder nur Zugang während der Übertragung von Fußballspielen haben und zudem nur die Farben von Manchester United, Celtic und der Republic of Ireland erlaubt sind. Die Liebe zu Manchester erklärt wieder George Best, die zu Celtic ist im nordirischen Konflikt begründet: in dieser Ecke Belfasts zählt natürlich nur die katholische Seite des Old Firms.
Doch noch ein weiterer Verein wird hier gemocht und so erfahren wir, dass nicht das Pokalspiel am kommenden Samstag das wichtigste Spiel dieser Woche für den Cliftonville FC ist, sondern das am morgigen Dienstag ausgetragene erste Playoff-Spiel gegen den Nachbarn Crusaders. Wir freuen uns natürlich so unverhofft ein weiteres Spiel sehen zu können, zumal wir mittlerweile in Erfahrung gebracht haben, dass unser Domizil fast in Spuckweite zum Solitude, dem Heimatstadion Cliftonvilles ist.

Manchester-Rot sowie Celtic und Irland-Grün sind erlaubt. Klick: größere Ansicht.

Gesagt, getan. Dienstag: Spieltag. Cliftonville FC versus Crusaders FC. Heimspiel für den ältesten Verein der ganzen Insel (gegründet 1879), derzeitiger Tabellenführer und mit einem grünen Kleeblatt in rotem Kreis gewappnet, das wohl nur uns Deutsche schwer an Rot-Weiß Oberhausen erinnert, den Rest der Welt vermutlich an Celtic. Gegner ist nicht nur, wie bereits erwähnt, der unmittelbare Nord-Belfaster Nachbar, sondern auch der Tabellenzweite, der einzige Verein, der Cliftonvilles Titelträume noch in Gefahr bringen kann und dem Namen gemäß einen Kreuzfahrer im Wappen zeigt.
Ein Spiel also, das also viel bietet: Nachbarschaftsduell und Titelkampf und nicht zuletzt der nordirische Konflikt – ein für Januar angesetztes Ligaspiel wurde seinerzeit ausgesetzt, da befürchtet werden musste, dass es im Flaggenstreit für Zündstoff sorgen könnte.

Die Südseite des Solitude. Beachtenswert auch: Kunstrasen. Nicht die dümmste Idee, wie wir später sehen werden. Klick: größere Ansicht.

So kreist auch ein Hubschrauber über unseren Köpfen, als wir auf dem Weg zum Solitude, dem Stadion Cliftonvilles sind. Ein Stadion, in dem der Verein seine Heimspiele seit 1890 austrägt, seit 1970 nur noch aus drei Seiten besteht und das angeblich 6220 Zuschauer fassen soll. Ich bin da ein bisschen skeptisch, das Stadion ist zu gut Dreivierteln besetzt und ich schätze 3000 Zuschauer, aber ich kann mich irren, Zuschauerangaben in Zeitungen scheinen in Nordirland jedenfalls nicht sonderlich en Vogue zu sein, so dass keine verlässlichen Angaben vorliegen. Diese 3000 Zuschauer jedenfalls verzichten auf jegliches Ultra-Verhalten, es gibt kaum Gesänge und wenn, dann eher der einfachen Art. Das bedeutet keineswegs, dass das Publikum weniger leidenschaftlich dabei wäre, jeder zweite Ball wird kommentiert, laut und nicht selten nicht jugendfrei.
Und Grund gibt es zu fluchen für die Red Army, wie sich die Cliftonviller Anhänger der Reds nennen: Zur Halbzeit steht es eher unverdient 0:1.
Doch Cliftonville, denen bereits zur Halbzeit unsere Sympathie gehört, hat Liam Boyce. Ein Jahr spielte er bei Werder Bremen II, bevor er desillusioniert zurück auf die Insel kehrte und er spielt die Saison seines Lebens. Und auch heute macht er die Saisontore Nummer 25 und 26 zu einem schwer umjubelten und hochverdienten Endstand von 3:1. Und nicht nur deswegen ziehen wir unseren Hut, der erwartete Untere-Ligen-Graupenfussball entpuppt sich als recht ansehnlich, insbesondere Cliftonville zeigt mitunter Spielzüge, die wir hier so nicht erwartet haben.

Eine historische Saison scheint also möglich zu sein für Cliftonville: Im Januar bereits den Liga-Pokal gewonnen (gegen, natürlich, die Crusaders), jetzt nur noch zwei Punkte von der Meisterschaft entfernt und am kommenden Samstag, vor unseren Augen, das Pokalhalbfinale – das Triple steht greifbar nahe. Und Cliftonville ist ansonsten nicht gerade Titelsammler, gerade mal drei Meisterschaften in 134 Jahren stehen auf dem Briefkopf, die großen, titelträchtigen Mannschaften sind Linfield und Glentoran.

Auf diesem Rasen trägt die nordirische Nationalmannschaft ihre Heimspiele aus Und nein, das ist keine optische Täuschung. Klick: größere Ansicht.

Letztere stehen an jenem Samstag zuerst auf dem Programm. Dankenswerterweise finden beide Halbfinale nacheinander statt, in den beiden größten (hier ist ein kleines Hüsteln erlaubt, wenn nicht gar angebracht) Stadien. Zunächst also geht es in den Windsor Park. Auch hier gibt es nur drei Seiten, dafür sieht der Rest allerdings schon nach richtigem Fußballstadion aus. Fast jedenfalls, dann wenn man den Rasen außer acht lässt (siehe Bild). Uns verschlägt es auf den Railway Stand (unser Eisenbahnherz hüpft vor Freude), dort wo die Fans des Portadown FC stehen und sitzen. Und hui, neunzig Minuten Dauersupport der Fans aus dem kleinen Städtchen südwestlich von Belfast. Das überrascht, insbesondere, da das Spiel zwischen dem Tabellensiebten gegen den -vierten dann doch das bietet, was wir vom nordirischen Fußball erwartet haben: Gebolze und Gegrätsche, wenig bis gar kein Spielfluss und Torchancen, die an einer Hand abzählbar sind. Am Ende, alss wir schon leise fürchten, es könne Verlängerung geben, triumphiert der Glentoran FC dank eines Tors nach Eckball.

The Oval, Heimat des Glentoran FC, heute Austragungsstätte des Pokalhalbfinals. Klick: größere Ansicht.

Also hinaus und ans andere Ende der Stadt, ins Oval, Heimat der Mannschaft, die wir gerade siegen sahen. Hier findet die Wiederauflage des Ligaspiels, dessen wir am Dienstag Zeuge werden konnten, statt. Die große Chance für die Reds, ihrem Traum vom Triple näher zu kommen und für die Crues, die Saison nicht komplett zu vervizekusen. Für uns ein Novum auf dieser Reise: das Stadion, inmitten einer deutlich loyalistisch beflaggten Wohngegend, hat tatsächlich vier Seiten. Hübsch ist es auch, sofern man Herz für alte kleine Stadien hat. Nur der Gästezugang, den wir als überzeugte Cliftonville-Freunde nehmen müssen, ist ein wenig gruselig – ein ca. achthundert Meter langer Käfig, der weit entfernt vom Haupteingang zwischen Autobahn und Wohngebiet zum Stadion führt. Und leider hat der Gott des guten Spiels heute offenbar Ausgang, jedenfalls bietet auch dieses zweite Halbfinale deutlich weniger Fußball als das Ligaspiel am vergangenen Dienstag. Die Crusaders halten gut dagegen, wäre man objektiv, würde man ihnen sogar ein Chancenplus attestieren. Aber in dieser Saison braucht es mehr, um Cliftonville zu schlagen. Ein Doppelschlag in der zweiten Halbzeit aus sehr berechtigtem (glaubt den Crusaders nicht, sollten sie Euch Anderes erzählen) Elfmeter und perfekt heraus gespieltem Konter nur eine Minute später macht die Sache klar. “And that’s why we’re champions” singt die Red Army erfreut und – huch – zündet ein bisschen rot vor sich hin rauchende Pyrotechnik.

Nordirische Bürotechnik. Klick: größere Ansicht.

Am Eingang zum Solitude, der Cliftonviller Heimat, hängt ein Schild, demnach nur Banner und Fahnen in den Klubfarben erlaubt seien. Im Stadion hängt ein Zehn-Punkte-Plan der UEFA, dass Rassismus und Sectarianism (also in etwa “Konfessionsgebundene Äußerungen”) nicht erwünscht sind. “Keine Politik im Stadion” hat in Nordirland, in dieser zerrissenen Gegend, die nach 3500 Toten und nun knapp fünfzehn Jahren Waffenstillstand so sehr um die Abwesenheit von Gewalt ringt, eine völlig andere Bedeutung. Und tatsächlich, lege ich die drei besuchten Spiele als Maßstab zu Grunde, gibt es recht wenig direkte Anzeichen des Konflikts. Ein Union Jack, der im Oval hängt; eine Zaunfahne in irischen Farben bei den Reds; in den Gesängen der Portadown-Anhänger taucht das mit den militanten Loyalisten und den Rangers aus Glasgow verbundene “No Surrender” auf, aber das war es schon. Überhaupt, das schottische Old Firm wirft seine Schatten auf den Norden der irischen Insel, als sportlich hochklassiges Surrogat für den in dieser Klasse in Nordirland nicht auffindbaren Fußball. Wer Cliftonville mag, mag Celtic, wer sich katholisch / irisch / republikanisch fühlt, auch.

Neben der in Großbritannien unvermeidlichen Warnung davor, dass man gefilmt wird, der Hinweis, dass nur Klubfarben erlaubt sind. Klick: größere Ansicht.

Erstaunlich bleibt, dass es auch in den schlimmsten Zeiten des euphemistisch “Troubles” genannten Bürgerkriegs immer einen Ligabetrieb gab. Der Hass und die Gewalt, die beide Seiten ausstrahlten und leider auch auslebten und inmitten dessen Fußballspiele, die nicht selten eben nicht nur unterschiedliche Fußballfarben, sondern auch die Farben der verfeindeten Lager repräsentierten – schwer vorstellbar. Dass die Qualität des Fußballs wenig Möglichkeit hatte, sich zu entwickeln (mal abgesehen von der geringen Einwohnerzahl Nordirlands und anderen Faktoren wie der Tatsache, dass Fußball auf der grünen Insel diesseits und jenseits der Grenze einen anderen Stellenwert hat als anderswo) – geschenkt. Es gibt Orte, an denen wichtiger ist, dass überhaupt Fußball gespielt wird, als die Frage, wie dieser aussieht.

Epilog.
Während ich damit beginne diesen Artikel zu schreiben, findet im Solitude das nächste Playoff-Spiel statt. Linfield, 51maliger Meister (und Meister der letzten drei Jahre) ist zu Gast. Der große Liam Boyce bringt die Reds zweimal in Führung, doch Linfield gleicht beide Male aus, bis die Ergebnisdienste – einen Stream sucht man vergebens, natürlich – in der 90. Minute stehen bleiben. Und verharren. Und nichts geschieht. Und dann irgendwann, spät in der Nachspielzeit: Elfmeter! Für Cliftonville! Verwandelt! Aus, aus, aus. Cliftonville ist Meister, das vierte Mal in der 124jährigen Vereinsgeschichte und in 112 Jahren ununterbrochener Ligazugehörigkeit! Jetzt noch am 4. Mai das Pokalfinale gewinnen und die unglaublichste aller Saisons für den Nord-Belfaster Verein ist perfekt.