¡Adiós Millonarios!

Irgendwo in der Nähe von Comodore Rivadavia, in der unendlichen Ödnis Patagoniens. Wir sitzen in einem Überlandbus, zwei Ausländer unter circa vierzig Argentiniern, mittelfristiges Ziel Feuerland. An einer unscheinbaren Straßenkreuzung wird der Bus von einer Polizeistreife angehalten, es gibt ein kurzes Gespräch zwischen Busfahrer und Polizeibeamten, der schließlich in den Bus steigt und langsam durch die Reihen geht. Hier und dort bleibt er stehen um ein paar Fragen zu stellen, bis er schließlich bei mir angelangt ist. Diese Polizeikontrollen der Überlandbusse sind nichts allzu ungewöhnliches, auch wenn sie eher selten stattfinden. Mit übellaunigem Ausdruck spricht der Polizist mich an, mein rudimentäres Spanisch und seine Sprachgeschwindigkeit sowie sein Dialekt beschließen sofort keine Freunde zu werden, aber ich bin vorbereitet und fische das erwartete Wort Pasaporte aus seinem Redeschwall.
Während er mit ernstem Gesicht meinen Ausweis studiert werde ich leicht nervös, argentinische Polizisten haben nicht unbedingt den allerbesten Ruf. Bis dahin gab es keinerlei Problem – auch auf der weiteren Reise wird es keine geben – aber nun ja, er guckt sich ziemlich lange meine Papiere an. Schließlich blickt er mich an und stellt die Frage. Bei allerbestem Willen – ich habe keine Ahnung, was er von mir will, ein Umstand, der ihm durch das große Fragezeichen in meinem Gesicht veraten wird. Er fragt erneut, etwas ungehaltener, leider nicht weniger schnell oder undeutlich. Ich verstehe immer noch nur estación und zucke mit den Schultern um ihm zu verdeutlichen, dass ich nicht weiß was er von mir will. Ein drittes Mal wiederholt er die Frage, diesmal mit Zuhilfenahme der Hände, die jedoch Zeichen in die Luft malen, die ich leider ebenso wenig deuten kann. Mittlerweile ist auch das leise Geschnatter um mich herum verstummt, die Mitreisenden, so kommt es mir vor, sind von der Angespanntheit des Polizisten angesteckt und blicken ebenso erwartungsvoll auf mich wie er.
Schließlich hat er die Nase voll von diesem dummen Touristen, der offenbar nicht einmal die einfachsten Fragen versteht und wiederholt sie ein weiteres Mal, diesmal allerdings auf das Wesentliche reduziert und die Zeichen seiner Hände langsam und deutlich wiederholend: ¿Boca – die Hände malen einen Brustring auf sein imaginäres Trikot – o River? – nun zeichnen sie eine Schärpe.
Ich bin erleichtert, endlich hab ich ihn verstanden, doch die Erleichterung währt nur kurz, denn seine Miene und die gespenstische Stille um mich herum verraten: Die Frage zu verstehen reicht nicht, auf die richtige Antwort kommt es an. ¿River o Boca? – auf diese Frage weiß nahezu jeder fußballinteressierte Argentinier eine Antwort, selbst wenn sein Herz für eine ganz andere Mannschaft schlägt. Der Superclásico hält das ganze Land in Atem, niemand der nicht hinsieht, niemand der sich nicht für eine Seite entscheiden würde. Diese beiden Mannschaften, die beide aus dem Hafenviertel La Boca stammen, auch wenn River Plate schon lange in den schicken Stadtteil Núñez gezogen ist und seit 1938 seine Heimspiele im benachbarten Nationalstadion El Monumental abhält, sind das Nonplusultra im argentinischen Fußball, selbst dann, wenn einer der beiden mal eine längere Durststrecke in Sachen Titelgewinn durchmacht.

River Plate hat viele Titel gewonnen in der 110jährigen Geschichte des Vereins. 33 Meistertitel, insgesamt 68 offizielle Titel national und international, der mit Abstand Führende der ewigen Tabelle der argentinischen Liga, nie abgestiegen.
Bis heute. Die beiden Relegationsspiele gegen Belgrano aus Belgrano konnte River nicht gewinnen und so muss der national erfolgreichste Verein Argentiniens erstmals den Gang in die Nacional B antreten – und das obwohl die Abstiegsregeln einstmals extra so kompliziert konzipiert wurden, damit genau dies nicht passiert. Doch zwei extrem schlechte Vorsaisons sorgten für einen sehr schlechten Quotienten, der wiederum dafür… egal, kompliziert. ¡Adiós River!

Ich überlege kurz, ob ich versuchen solle, dem Polizisten klar zu machen, dass ich, wenn ich mich für einen argentinischen Verein entscheiden müsse, Independiente wählen würde, aber ich weiß, dass dies keine geltende Antwort wäre. ¿River o Boca? sieht nicht vor, dass ein dritter argentinischer Verein genannt wird. Also schüttelte ich den Kopf und radebreche daher, dass ich ja nur den einen Verein möge, den FC Cologne aus Alemania. Der Polizist gibt auf, vermutlich beschließt er in diesem Moment, dass Touristen merkwürdige Menschen sind, die zu verstehen es sich nicht lohnt, gibt mir meinen Ausweis wieder und zieht von dannen. Die verwirrten Blicke der Mitreisenden bleiben.

Der Flügel und Podolski oder auch: Der Feind in seinem Rücken

Das Spiel ist jedes Mal dasselbe: Wenn die deutsche Nationalmannschaft spielt und Lukas Podolski in ihren Reihen steht, ist das Gejammer groß: Die Defensivarbeit des Kölners sei unter aller Kajüte, das Zusammenspiel am linken Flügel nicht existent und die Laufarbeit nicht ausreichend. Das Ergebnis ist ein defensiv anfällig linker Flügel, und da, wir alle wissen, die Verteidigung vorne beginnt, ist der Schuldige leicht ausgemacht: Podolski, Lukas.

Nun gilt es zwei Dinge vorauszuschicken, die ich vermutlich nicht vorausschicken bräuchte, es sei trotzdem getan: Natürlich ist mir bewusst, dass ich bei der Beurteilung der Leistung Podolskis die rot-weiße Brille aufhabe, wer selbst eine solche auf der Nase trägt – ob nun in wunderschönem rot-weiß oder abgrundtiefgrunzhäßlichen anderen Farben – wird wissen, dass eine solche nicht einfach so abzusetzen ist, bei allem Bemühen um Objektivität.
Und natürlich ist Lukas Podolski, einstmals Stürmer, in der Nationalmannschaft offensiver linker Außen, kein Verteidiger. Wird er auch niemals sein, sicherlich.

Trotzdem halte ich die These vom defensivfaulen Podolski für Kokolores. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen sehe ich Podolski regelmäßig im Trikot des 1. FC Köln, und sehe ihn dort – umgeben von Spielern, denen das trickreiche, schnelle Spiel meistens eher weniger liegt – arbeiten. Nach vorne, nach hinten, seitwärts. Natürlich hat er auch dort immer noch jene typischen Podolski-Spiele, in denen er früh den Eindruck gewinnt, heute würde ihm wohl wenig gelingen und in Folge auch wenig versucht, doch diese lethargischen Spiele werden weniger.
Das zweite Argument ist schlagkräftiger, meines Erachtens jedenfalls, Gegenrede ist wie immer willkommen:
Zu einer gelungenen Defensivarbeit gehören – tatatata, Ladies and Gentleman, please welcome: The glorious Allgemeinplatz – alle elf Spieler. Zu einem gelungenen Defensiv- und Zusammenspiel auf einem Flügel gehören mindestens zwei Spieler, sofern wir denn über ein 4-2-3-1 oder Ähnliches reden. Neben dem offensiven linken Außen ist dies – oho! – der defensive linke Außen.

Außenverteidiger, linker. Nationalmannschaft. Wir denken scharf nach und landen bei Marcel Schmelzer, der nicht nur, mehr schlecht als recht, am vergangenen Freitag gegen Österreich auf dieser Position spielte, sondern auch in den beiden vorangegangenen Spielen, in denen Podolski mitwirkte. Und sonst so?

Ich bin mal nicht so und helfe nach. Alle linken Verteidiger der Nationalmannschaft aus Spielen, in denen a) Podolski mitwirkte und b) seit der Umstellung auf ein 4-2-3-1 System, also seit der Europameisterschaft 2008 (Es gab einige wenige Ausnahmen, in denen Podolski zweite Spitze spielte, die habe ich rausgelassen):

Phillip Lahm – 10 Spiele
Jérôme Boateng – 4 Spiele
Holger Badstuber – 4 Spiele
Marcel Schmelzer – 3 Spiele
Dennis Aogo – 3 Spiele
Heiko Westermann – 3 Spiele
Marcell Jansen – 3 Spiele
Marcel Schäfer – 3 Spiele

Das ist, ohne dem einen oder anderen zu Nahe treten zu wollen, eine Liste des Gruselns. Ich bin sicher, Schmelzer oder Boateng, vielleicht auch Aogo werden noch zu einem Außenverteidiger internationalen Ranges werden, aber eben: Sie werden werden. Nicht: Sie sind. Dass Lahm, ohne jede Konkurrenz der beste Außenverteidiger Deutschlands seit der zähneknirschenden Aufgabe des Liberos, diese Position mit Abstand am häufigsten spielte, sagt alles, ist doch eigentlich die rechte Außenverteidigerposition seine Bessere und Geliebtere.
Der eine oder andere wird möglicherweise noch zu einem guten – also: internationales Niveau – Innenverteidiger (Badstuber, Boateng) oder ist ein brauchbarer solcher (Westermann), aber linke Verteidiger sind sie nicht.

Was ich also sagen will: Podolskis Defensivarbeit ist sicher noch verbessungswürdig, der Mann ist ja schließlich gerade eben erst 26 geworden. In der Beurteilung des defensiven Spiels auf dem linken Flügel in der Nationalmannschaft möge man bitte nicht übersehen, dass dort im Defensivverbund in der Regel jemand steht, der dort (noch) nicht hingehört und selbst Hilfe braucht, statt Hilfe zu bieten. Nicht umsonst gehören die Spiele, in denen Phillip Lahm diese Position besetzte zu den besten Podolskis im Nationaltrikot.