Ganz nach vorn

So viele Elfmeter liegen gelassen. In Darmstadt, Fürth, in Bochum. Wieder und wieder beim Anlauf ausgerutscht, quasi. Das Ding war durch, wer solche Spiele nicht gewinnt, kann nicht aufsteigen. Wieder, wie schon 2 Jahre zuvor, im Saisonendspurt die Nerven verloren, die Konstanz verloren, die Spiele nicht gewonnen. Und nun der übermächtige VfB Stuttgart, das ist eine klare Sache. Ein fantastisches Hinspiel, ja, sicher, aber heute und hier ist da eigentlich nichts zu holen.

Egal. Die Möglichkeit besteht trotzdem. Beste Heimmannschaft der zweiten Liga. Beste Defensive der zweiten Liga. Nur elf popelige Tore kassiert zu Hause, da muss der Gomez Mario erst mal dran vorbei. Und wir haben Rafał. Der kann allen Gegnern den Ball vom Fuß zaubern, nur mit der Kraft seiner Augen. Und seinen Mitspielern brennt er die Angst weg, auch mit seinem Blick.

Die Gedanken in den Köpfen sind ein wild zuckendes Hin und Her, zu flüchtig um sie zu artikulieren, eben noch bei der Packung, die gleich kommen wird, jetzt schon beim gloriosen Triumph, der auf uns wartet, als wir das Stadion betreten. Früher als sonst, wir können es nicht abwarten, wir wollen da jetzt hin, lasst das Spiel endlich beginnen, wir platzen sonst. Es ist nicht weniger als ein medizinischer Notfall, dass dieses verdammte Spiel sofort beginnt und sofort beendet wird, wie auch immer.

Aber noch ist eine Stunde hin bis zum Anpfiff, und wir kommen nicht auf unsere angestammten Plätze, alles schon voll und fast alles Menschen, die wir da noch nie gesehen haben, in den 18 Jahren, die wir da stehen. Wer sind diese Menschen, wo kommen sie her, was soll das?
Etwas weiter links also heute, in der Verlängerung der linken Außenlinie. Das Stadion singt. Der Stuttgarter Mob, auch schon da, hüpft. Wir singen weiter. Lauter. Immer weiter, ganz nach vorn.

Endlich, das Spiel beginnt. Die erzeugte Elektrizität auf den Rängen reicht, um eine Handvoll Kleinstädte für ein paar Jahre mit Strom zu versorgen. Irgendwer hat Bier besorgt, das haben wir uns im Stadion eigentlich abgewöhnt, vorher und nachher draußen ist es billiger und hier schwierig wieder an den Platz zu kommen. Heute ist alles anders.

Es ist laut, natürlich, aber das ist es meistens. Heute ist es nicht nur lauter, sondern auch anders laut. Alle singen und brüllen immer zu, durchgehend, es gibt keine Gespräche, keine Fachsimpeleien, keine Diskussionen über Schiedsrichterentscheidungen, kein Gemecker über Fehlpässe. Es gibt nur die, die ihre Anspannung heraus brüllen und die, die von ihr in Apathie gefangen werden. S. wirft ihren Mittelfinger dem Schiedsrichter entgegen, egal, ob die Entscheidung richtig oder falsch war, sonst nicht ihre Art. E., neben mir stehend, brüllt seine Kommentare dem Spielfeld entgegen, als könne er Wunder bewirken, wenn er nur laut genug ist.

Und Wunder sind notwendig, Grund für Gemecker gäbe es reichlich, wenn wir meckern würden heute, wenn wir es könnten, die erste Halbzeit ist ein stetes schwäbisches Anrennen auf unser Tor und sie dauert heute nicht 45 und nicht 50 Minuten, sondern mindestens 7 1/2 Stunden, sie will nicht enden. Ein Tor fällt, wird wieder zurückgenommen, was neu für uns ist, aber das ist kein Thema jetzt, zählte nicht, alles gut, warum auch immer, egal, weiter, immer weiter, ganz nach vorn.

Halbzeit. Durchatmen. Oder wenigstens den Versuch wagen. Daran scheitern. Durchatmen ist heute nicht. Bitte, Jungs, da unten, weiter so. Egal wie, keins kassieren. Und wir wissen doch: Irgendwann wird es kommen. Vielleicht doch mal einen Angriff wagen. Oder zwei.

Irgendwann in der zweiten Halbzeit wechsel ich von der Gruppe der Brüllenden in die der Apathischen. Ich kann nicht mehr. Es ist keine Entscheidung des Kopfes oder des Herzens, Stupor hat meinen Körper ergriffen. Die Unsrigen sind jetzt etwas mutiger, aber jeder Meter scheint schwerer zu fallen, so sehr sind sie bislang jedem Ball hinterher gerannt, haben den Gegenspieler verfolgt, den Ball gewonnen und sofort wieder verloren, sind wieder hinterher gerannt. In der 65. Minute kommt Zulj zum Eckball und sieht aus, als habe er schon mehrere Marathonläufe hinter sich. Ryerson, anfänglich mit spielerischen Problemen, jetzt mit fantastischer Leistung, humpelt, wenn der Ball gerade nicht in seiner Nähe ist, ist er es aber, rennt er, als habe das Spiel gerade erst begonnen. Wir hören das Knallen des Balles, als Manni Abdullahi ihn an den Pfosten jagt, einmal, zweimal. Das wäre es gewesen. Für viel mehr reicht vorne weder Kraft noch Mut, beides wird gebraucht, um zu verhindern, dass hinten das Stuttgarter Tor noch fällt.

Und doch wird es fallen. Das weiß jeder, spätestens als die 85. Minute anbricht, wenn es jetzt nämlich fällt, dann ist es zu spät, dann ist es aus. Die, die noch können, brüllen noch lauter. Den Ball vom eigenen Tor weg brüllen. Das geht. Muss gehen. Noch aggressiver, noch verzweifelter, noch mehr von allem. Wir platzen gleich. Oder entzünden uns. Oder beides. Jede Sekunde kann es geschehen. Atmen. Irgendwie atmen. Pfeif endlich ab. Pfeif ab!

Er pfeift ab. Wir schreien, wir umarmen uns, wir hüpfen, im Knäuel, zu dritt, zu viert. Tränen fließen. Wir fallen uns um den Hals im Taumel Wahnsinniger. Als wir wieder hingucken können, ist das Spielfeld schon voll. Ich bin kein Freund von Platzstürmen, auch nicht solcher, die aus Freude passieren, aber jetzt und hier verstehe ich, was da passiert, all die Energie, die sich in den Wochen und Tagen und Stunden und 90+ Minuten aufgeladen hat, muss irgendwo hin, rennen tut da sicher gut. Wir bleiben da, aber schreien und hüpfen immer noch.

Später dann, an der Birke, die nicht mehr da ist, aber immer noch als Treffpunkt direkt vor dem Stadion dient, leere Blicke. Andere schreien sich gegenseitig die Freude ins Gesicht. Alle sagen, dass sie gar nicht verstehen, was da gerade passiert ist. Irres Gelächter wechselt mit stummen Kopfschütteln. Das alles ist nicht zu verarbeiten. Vermutlich wachen wir morgen auf und stellen fest, dass das alles doch irgendwie nicht stimmt, logisch wäre es jedenfalls. Körperliche Schmerzen von der Anspannung haben wir jetzt schon, heisere Stimmen auch. Die Lautesten sind ganz leise, die Leisesten ganz laut. Völliger Wahnsinn, das alles.

Die letzte S-Bahn bringt uns zurück, alles wird besungen, wieder und wieder. Und Pa-ren-sen! Pa-ren-sen! Im heimischen Prenzlauer Berg zieht die Meute durch die Straßen zur Stammkneipe, die Anwohner werden freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, was heute geschehen ist.

Der 1.FC Union Berlin ist aufgestiegen. Und: Relegation abschaffen. Das hält doch kein Mensch aus.